Dynamik des Yoga
Laien haben sehr vage und oft seltsame Vorstellungen über Yoga. Doch sogar jene, die einige Kenntnisse von dieser alten Wissenschaft und auch praktische Erfahrung haben, finden es häufig nicht leicht, manche seiner offensichtlichen Wahrheiten zu würdigen. Tatsächlich scheinen einige der Vorstellungen, die in diesem Kapitel dargelegt werden, neu und werden höchstwahrscheinlich viele liebgewordene Theorien über Yoga umwerfen.
Wie sehen diese neuen Vorstellungen aus?
Erstens: Um Yoga zu praktizieren, muss man sein Heim nicht verlassen und sich in die Einsamkeit zurückziehen. Es ist an der Zeit, den Glauben fallen zu lassen, nur Entsagende oder Mönche (Sannyasins) seien für Yoga geeignet.
Zweitens: Für eine partnerschaftliche und sexuelle Beziehung ist die Ausübung von Yoga kein Hindernis.
Drittens: Nichtvegetarier müssen ihre Ernährungsweise nicht umstellen, nur weil sie mit Yoga beginnen wollen.
Das wahre Ziel von Yoga ist die Erlangung des inneren Friedens und der inneren Ruhe, und dafür braucht sich die gewohnte Lebensweise nicht zu ändern.
Die Flucht vor den Schwierigkeiten des Lebens ist keine Lösung von Problemen. Es ist wahrlich keine Illusion, dass Leben ist und bleibt ein Schlachtfeld. Für einen Philosophen mag es eine Illusion sein; seine Welt ist eine Welt der Imagination, und seine Füße stehen nicht fest auf dem Boden. Yoga ist praktisch und hat nichts mit theoretischen Spekulationen zu tun. Niemand sollte auch nur einen Moment glauben, dass das Leben eines Menschen, der seine Verpflichtungen mitten im Leben hat, aus yogischer Sicht geringer sei, als das Leben eines Mönches oder Entsagenden oder jenes der Frau als das eines Mannes. All diese Vorstellungen könnten annehmen lassen, Yoga habe keinen Platz in unserer heutigen modernen Welt.
Gerade heute jedoch hat Yoga eine wichtige Rolle zu spielen. Seine bloße Ausübung kann mentale und körperliche Leiden beheben und Freude in unsere Herzen und Häuser bringen. Mit der Ausübung von Yoga sind keine außergewöhnlichen Erwartungen an Selbstdisziplin und Verhalten geknüpft. Man kann sich weiterhin an den schönen Dingen des Lebens erfreuen und gleichzeitig ein Yogi sein, und es ist nicht notwendig, alle weltlichen Ambitionen oder materielles Streben aufzugeben, um yogisch zu leben. Doch sollten Wünsche und Begierden den Menschen nicht versklaven.
Wer ernsthaft Yoga übt, bleibt unberührt wie das Meer, das die turbulenten Wasser der hereinströmenden Flüsse aufnimmt. Ein Yogi kann sinnliche Erfüllung genießen, ohne ihr verfallen zu sein. Nicht Lebensverachtung ist der Weg, sondern das Leben mit all seiner Schönheit und seinen Schwierigkeiten zu umarmen. Sich in die Einsamkeit zurück zu ziehen und entrückt in der einsamen Größe von Samadhi zu verweilen (Zustand der inneren Ausgeglichenheit), ist nicht das Ideal. Wahres Heldentum liegt allein darin, mitten im Tumult des Lebens und trotz aller Widrigkeiten innerlich gelassen zu bleiben.
Ein Arzt, der nur gesunde Patienten haben will, ist kein Arzt. Wäre Yoga nur für Menschen, die körperlich und mental völlig gesund sind, dann gäbe es keinen Grund mehr, Yoga als die große Wissenschaft des Lebens zu bezeichnen; der Wirkungsbereich wäre zu stark eingeschränkt. Als durchaus rationale Wissenschaft kann Yoga für alle Menschen in jeder Lebenssituation ein Segen sein. Nach den immer wiederkehrenden mentalen und körperlichen Mühen des Tages kann Yoga Spannkraft und Vitalität wiederherstellen.
Für weltlich eingestellte Menschen bedeutet das Leben ein kontinuierliches sich Verausgaben. Ihr Bemühen, das Herdfeuer nicht erlöschen zu lassen, ihre Aktivitäten, um sozialen, nationalen und internationalen Verpflichtungen nachzukommen, sind wahrhaft Opfergaben. Wenn man sich dieser Wahrheit bewusst ist, kann die Vision auf Selbstverwirklichung ungetrübt bestehen bleiben, auch und gerade inmitten der unermüdlichen harten Arbeit.
Ununterbrochene Aktivität im Wirbel des Lebens fordert jedoch seinen Preis. Ängste, Frustration, Erschöpfung im Geist und im Körper - all das beschleunigt den Alterungsprozess. Yoga ist ein kraftvolles Heilmittel gegen diese Zerstörungskräfte.
Jeder kann sich Yoga widmen, denn es gibt keinerlei Einschränkungen. Junge Menschen genauso wie ältere, Manager wie Hausfrauen, Reiche wie Arme. Yoga ist eine Wissenschaft, die die Evolution vorantreibt und setzt somit auch ganz sicher nicht ein lebenslanges Zölibat voraus.
Yoga ist nicht allein der achtstufige Ashtanga Yoga. Einfache Übungen wie Asanas (yogische Haltungen), Pranayama (yogische Atemübungen), Japa (Wiederholung eines Mantras), Nada Yoga (Yoga der Klangschwingung) und Trataka (den Blick auf einen Punkt fixieren, ähnlich der Kistallschau) sind genauso wirkungsvoll. Karma Yoga (Yoga der Handlung), Bhakti Yoga (Yoga der Hingabe), Jnana Yoga (Yoga des Erforschens) und Raja Yoga (Yoga der Meditation) sind verschiedene Aspekte von Yoga und sogar Musik spielt eine wichtige Rolle.
Bhakti Yoga hat eine beruhigende Wirkung auf aufgestaute Gefühle und einen erhitzten Geist und somit kann unsere alltägliche Arbeit Yoga sein. Letztlich jedoch ist das Leben selbst Yoga. Das Feld ist ungeheuer groß und einladend. Der Reiz und die Schönheit von Yoga können all unsere Aktivitäten im Leben transformieren. Das betrifft auch die schwierigen Zeiten des Lebens, denn sie sind Teil der Realität.
Patanjalis Yamas (Moralkodex) und Niyamas (Verhaltenskodex), so werden sie meist übersetzt, waren für eine längst vergangene Zeit wichtig. Solange sie sich auf diese Interpretationen beschränken, sind sie für unsere heutige Zeit ganz einfach nicht mehr relevant. Die gute alte Zeit unserer Vorfahren war noch voller Tugenden. Um uns herum ist alles voller Unwahrheiten, Gewalt und unzähliger anderer Unvollkommenheiten. Wahrhaftigkeit (Satya), frei von Gewalt (Ahimsa), usw. sind bewundernswerte Kräfte; allerdings können sie nur dann zu Vollkommenheit führen, wenn sie nicht aufgezwungen werden. Yoga hat nichts mit Kultivierung unerreichbarer Tugenden zu tun.
Yoga ist eine rationale Wissenschaft mit technischen Möglichkeiten, um den unruhigen Geist zur Ruhe zu bringen, um die physischen und mentalen Energien nutzbringend einzusetzen und unsere Widerstandskraft aufrecht zu erhalten. Das Ziel von Yoga ist - zusammengefasst - die Entwicklung einer in sich ausgewogenen Persönlichkeit. Der beste Weg, um das zu erreichen, ist eine Synthese von Bhakti, Karma, Jnana und Raja Yoga. Der Mensch sollte nicht nur den Intellekt einsetzen, jedoch auch nicht nur die Emotionen - nur ein gutes Zusammenspiel beider Kräfte führt zu innerem Frieden.
Das Wort Yoga hat eine große Bedeutung. Es stammt aus der Sanskrit Wurzel yuj (vereinigen). Yoga bedeutet Einssein. Bewusst an den Freuden und Leiden aller Menschen teilzunehmen, den Horizont zu erweitern und über das kleine, begrenzte Leben hinaus zu gehen ist Yoga. Aus dieser Perspektive betrachtet, lässt sich Yoga nicht mehr als individualistisch oder ego-zentriert bezeichnen. Emotional mit allen Menschen im Einklang zu sein, so wie eine Mutter mit ihrem Kind, ist der Schlüssel, um Isolation aufzubrechen.
Yoga bedeutet körperliches und mentales Wohlbefinden. Für die leidende Menschheit ist Yoga eine Therapie für Körper und Geist. Für jemand, der auf Suche nach der Wahrheit ist, ist es der kürzeste Weg zur Gottverwirklichung. Yoga ist in der Tat ein Meisterplan der Vollkommenheit. Nenne ihn ein Programm, eine Methode oder eine Philosophie. Ein Programm ist er insofern, als er ein anzustrebendes Ziel bietet. Eine Methode ist er insofern, als yogische Übungen methodisch klar und verständlich sind. Wie immer die spirituelle Orientierung aussieht, Meditation und andere Übungen können jederzeit sehr hilfreich sein. Nur wenige Methoden der Selbstverwirklichung sind wirklich allgemein gültig und daher auch vielseitig anwendbar. Yoga ist ein universales Rezept und ist wirklich ein einzigartiger, ein gangbarer Weg zur Selbstverwirklichung.
Um unsere oft hochgesteckten Ziele im Leben zu erreichen, brauchen wir Willenskraft, die mit einer unausgewogenen Persönlichkeit nicht aufzubringen ist. Ohne Willenskraft jedoch gibt es keinen materiellen und auch keinen spirituellen Fortschritt. Durch die Verschiedenartigkeit der yogischen Übungen lässt sich die innere Willenskraft stärken, und so lässt sich eine Persönlichkeitsspaltung - ein Konflikt zwischen dem Ego und dem Super-Ego - vermeiden.
Erfreust du dich eines glücklichen, harmonischen Lebens? Bist du voller Enthusiasmus in deinen täglichen Aktivitäten? Wenn sich widrige Umstände gegen dich richten, kannst du dich dann mit einem kühlen Kopf und Zuversicht darüber erheben? Für diese Kunst des Lebens steht Yoga
(Aus: Dynamik des Yoga; Newsletter No. 5)