Obwohl Yoga für die meisten Menschen im Westen inzwischen ein Begriff ist, ist es doch in erster Linie Hatha Yoga, worüber gesprochen und was gelehrt wird. Hierunter fallen größtenteils gymnastische Übungen - ein wenig verwandelt -, die dann als Hatha Yoga Übungen bezeichnet werden. Die alten yogischen Schriften sind vielen Yogalehrern nicht einmal bekannt. Hierzu zählt insbesondere die Hatha Yoga Pradipika, die von dem Yogi Swatmarama zusammengestellt wurde. In der Urfassung ist sie so gut wie nicht verständlich, da diese Übungen in früheren Zeiten stets vom Meister an den Schüler in direkter Form vermittelt wurden.
Deshalb brauchen wir heute Kommentare, um den tieferen Sinn und die genaue Durchführung der vielfältigen Übungen zu verstehen. In unserem Yogaheft Nr. 15, herausgegeben im März 1987, haben wir die Einführung zur Hatha Yoga Pradipika veröffentlicht, in der Swami Satyananda ausführlich diese alte Wissenschaft erklärt.
Die kommentierte Hatha Yoga Pradipika ist eines der wichtigen Werke der Bihar School of Yoga (in englisch) und kann über uns bestellt werden. Das siebenhundertseitige Buch enthält alle Original-Slokas (Verse) in Sanskrit über Asana, Shatkarma, Pranayama, Mudra, Bandha, mit englischer Übersetzung und Kommentar. Da Hatha Yoga eindeutig zu der tantrischen Wissenschaft zählt, können die Kommentare auch nur von einem tantrischen Meister, der mit all diesen Übungen vertraut ist, gegeben werden. Einen solchen Meister finden wir in Swami Satyananda.
Aus dem dritten Kapitel über Mudra und Bandha veröffentlichen wir hier Sloka 83 über Vajroli Mudra, um in einen relativ unbekannten Aspekt von Hatha Yoga einzuführen. Wir möchten aber hinzufügen, dass es weitere 20 Slokas zu diesem Thema gibt, die erst zu tieferem Verständnis führen. Ein solches Buch zu lesen, kann Interesse wecken und unseren Verstand befriedigen. Letztendlich brauchen wir jedoch einen Meister, der uns tiefer einführen kann.
Jeder, der Vajroli gut beherrscht, wird Siddhis (Vollkommenheit) erlangen, selbst, wenn er ansonsten im weltlichen Leben steht, ohne den yogischen Regeln zu folgen.
Vajra bedeutet `Donner' oder `Blitz'. Indem der Gott Indra Vajra als Waffe trägt, wird er zum `Mächtigen'. Vajra bezieht sich hier auf das Vajra Nadi, das für die Steuerung des Urogenitalsystems verantwortlich ist. Als einer der drei wichtigen Energieströme, die sich in Sushumna Nadi (im Rückenmark) bewegen, ist es derjenige, der das gesamte Sexualsystem im Körper steuert und somit das Sexualverhalten prägt. Von Sigmund Freud wurde dieser Aspekt mit `Libido' und von Dr. Wilhelm Reich als `Orgon' bezeichnet. Durch tantrische Übungen wird diese Energie zum Leben erweckt und in andere Bahnen gelenkt, keinesfalls jedoch unterdrückt. Die Oli Mudras (Vajroli, Sahajoli und Amaroli) sind jene, die besonders die sexuelle Energie in Lebensenergie und Kundalini Shakti umwandeln.
Laut der `Shatkarma Sangraha' gibt es sieben Übungen, die Vajroli betreffen und Jahre der Vorbereitung bedürfen. Zuerst erfolgt die einfache Kontraktion der Urogenitalmuskeln, was dann später zu der Fähigkeit führt, diverse Flüssigkeiten durch die Genitalöffnungen einzusaugen. Nur, wenn die ersten sechs Übungen mit Hilfe eines Meisters beherrscht werden, kann der Yogi mit der siebten Übung beginnen.
In diese Übung kann `Maithuna', der yogische Geschlechtsverkehr, miteinbezogen werden. Wer Vajroli ernsthaft übt, kann die sexuellen Energien, Hormone und Sekrete in den Körper zurückführen und die negativen und positiven Energiepole im eigenen Körper vereinigen.
Zwangsläufig mussten uns diese Übungen als unnatürlich oder schädlich erscheinen, weil uns die Kommentare eines Meisters dazu fehlten. Viele Ausgaben der Hatha Yoga Pradipika vermeiden daher die Erörterung dieser Slokas. Tantra geriet daher in den Ruf, obszöne Praktiken zu beinhalten. Das ist jedoch eindeutig eine falsche Auslegung und führte zu der Vorstellung, dass spirituelles Leben mit dem weltlichen Leben und dem physischen Körper nicht vereinbar sind. Die religiöse Konditionierung der Vergangenheit hat das ihrige dazu beigetragen. Spirituelles Leben ist nicht gegen die Sexualität gerichtet und das Sexualleben ist nicht antispirituell!
Man kann natürlich auch im Zölibat leben, aber vom tantrischen Gesichtspunkt aus sollte dieser Wunsch aus dem Inneren heraus entstehen und keinesfalls die Unterdrückung der sexuellen Wünsche beinhalten. Spirituelles Leben bringt eine Bewusstseinsentwicklung mit sich und schließt eine neue Körpererfahrung ein. Letztendlich führt es dahin, dass wir Yoga in unser ganzes Leben mit einbeziehen können, warum also sollte das Sexualleben davon ausgeschlossen sein? Aus diesen Slokas geht hervor, dass sich das Sexualleben von der rein sinnlichen Ebene auf eine spirituelle ausweiten kann, vorausgesetzt, dass man sich bestimmter Übungen unterzieht. Und das ist der Sinn von Vajroli Mudra.
Den Namen Yogi verdient ein Mensch, der seinen Körper mit all seinen Funktionen, seine Gedanken, Gefühle und Handlungen unter vollkommener Kontrolle hat. Wenn sich z.b. jemand mit Essen vollstopft, ist das genauso `obszön', wie unkontrollierte sexuelle Betätigung. Durch Ausleben der Sexualität werden drei unterschiedliche Bedürfnisse, die mit den drei Gunas (Eigenschaften der Natur) zusammenhängen, abgedeckt. In Sanskrit heißen sie Tamas, Rajas und Sattwa. Mit unseren Worten können wir sie als Trägheit, Aufruhr und Harmonie bezeichnen. Für den tamasgeprägten Menschen ist der Geschlechtsverkehr für die Zeugung von Nachkommen vorrangig. Für den rajasgeprägten Menschen ist es das sinnliche Vergnügen. Dem sattwageprägten Menschen ist der spirituelle Aspekt vorrangig und dementsprechend setzt er den Geschlechtsverkehr dafür ein.
Der Wunsch nach Samenerguss ist ein instinktiver innerer Trieb, der in der ganzen Natur beobachtet werden kann, also nicht nur beim Menschen. Schuldgefühle oder Scham sind also absolut unnötig. Das Ziel eines Menschen sollte es jedoch sein, das animalische Bewusstsein zu überwinden und ein inneres Glück zu erlangen. Das Potential des Menschen ist weitaus größer, als die kurzlebigen Erfahrungen, die mit dem Samenerguss einhergehen. Samen und Ova (weibliches Sekret) tragen das gesamte Evolutionspotential mit sich und wenn wir hierüber Kontrolle erlangen können, werden wir nicht nur Meister über den Körper, sondern ebenfalls über das Bewusstsein.
Nur wenige können diesen Mechanismus steuern, denn das Wissen darüber ist verschüttet; wir sind aber alle durch diverse Hatha Yogaübungen dazu in der Lage. Wer diese Kunst erlangt, stößt in einen neuen Erfahrungsbereich vor. Die Weiterentwicklung ist möglich und geschieht stufenweise.
Unkontrolliertes Freilassen des Samens beeinflusst das gesamte Leben eines Menschen, führt zu vorzeitigem Nachlassen der Gehirnkapazität, belastet das Herz und erschöpft das Nervensystem. Viele Menschen sterben vorzeitig an physischer und mentaler Erschöpfung, ohne ihre Ziele und Träume erreicht zu haben. Die moderne Wissenschaft ist noch nicht so weit vorgedrungen, um sich dieses wichtigen Faktors bewusst zu werden.
Wenn der Samenerguss aufgehalten werden kann, so dass Energie und Sperma nicht durch das Zeugungsorgan hinausgelangen, kann die Energie in noch nicht entwickelte Zentren des Gehirns gelenkt werden, so dass sich ein neues, größeres Bewusstsein entwickelt, größere Aufgaben können verwirklicht werden und eine uneingeschränkte Vitalkraft wird freigesetzt.
Wer Vajroli Mudra übt, wird - auch wenn er ein weltliches Leben führt - größere Erfolge im Leben haben, aus einer tieferen Quelle werden ihm vitale und mentale Kraft zufließen. Das ist die Aussage dieses Slokas. Es gibt nur wenige große Yogis und Meister, die diese Erfahrungen gemacht haben und dann ihre Schüler in die `Oli Mudras' und andere Hatha Yoga-Techniken eingeweiht haben.
Im normalen Leben ist der sexuelle Höhepunkt der einzige Moment, wo sich das Bewusstsein für einen flüchtigen Augenblick ausschaltet und andere Ebenen als die des Körperbewusstseins betreten werden können. Dieses Erlebnis ist jedoch nur deshalb so kurzlebig, weil sich die Energien nur durch die niederen Energiezentren zum Ausdruck bringen können. Jene Energie, die so verloren geht, kann genutzt werden, um die schlafende Kraft von Kundalini im Mooladhara Chakra zu erwecken. Kann das Sperma zurückgehalten werden, ist es möglich, die Energie durch Sushumna Nadi und das Zentralnervensystem zu den ruhenden Teilen des Gehirns und dem noch nicht erwachten Bewusstsein zu lenken.
Für den Tantriker bleibt die Erfahrung während des Geschlechtsaktes nicht an diesem Punkt stehen, wo alle Gedanken ausgeschaltet sind, sondern dehnt sich über den rein sinnlichen Bereich aus. Bewusstheit und Kontrollfähigkeit müssen sich jedoch langsam entwickeln, ebenso die Sinne, die zwar als Werkzeug benutzt werden, jedoch nicht im animalischen Bereich verbleiben. Vajroli Mudra und verschiedene andere tantrische Rituale dienen dazu, dies zu vervollkommnen.
Gerade heute im Kali Yuga - dem dunklen Zeitalter - ist Vajroli Mudra so wichtig, weil die Menschen dieses Zeitalters sich vorrangig in der materiellen und sinnlichen Welt bewegen. Wir müssen nicht aus dieser Welt flüchten, sollten aber gleichzeitig ein inneres Wahrnehmungsvermögen entwickeln. Wir sollten es uns zum Ziel setzen, unser Leben mit tieferen und erfüllteren Erfahrungen zu bereichern, die über die gewöhnlichen Sinnesempfindungen hinausgehen.
Der Mensch hat vier Grundbedürfnisse, die in der Sanskritliteratur als Purushartha oder Chaturvarga bekannt sind. (Kama - Sinnesfreuden, Artha - Streben nach Wohlstand, Dharma - Pflicht, Moksha - Befreiung). Kama ist die sinnliche Befriedigung, die im bestimmten Umfang ausgelebt werden muss. Dabei sollten wir jedoch nicht zulassen, dass das Bewusstsein nach unten gezogen wird. Auch diese Befriedigung dient letztlich einem höheren Sinn.
Jede Handlung, und dazu zählt auch der Geschlechtsakt, sollte so vollzogen werden, dass wir unsere wahre Existenz und den eigentlichen Sinn unseres Lebens erkennen. Dann erst führen wir ein wahrhaft spirituelles Leben.
Spirituelles Leben sollte nicht mit puritanischen Moralvorstellungen verwechselt werden. Man kann nach puritanischen Idealen leben und auch so zur Erleuchtung gelangen, sollte dann aber nicht andere verurteilen, die so nicht leben wollen oder können. Werden Ideale gesetzt, dass der spirituelle Pfad eben so und nicht anders zu sein hat, werden die eigenen Möglichkeiten für neue und größere Erfahrungen begrenzt.
Spirituelle Entfaltung ist ein evolutionsimmanenter Prozess. Wie die Entwicklung der Natur kann er langsam über Jahrmillionen ablaufen, oder er kann durch Yogaübungen beschleunigt werden. Vajroli Mudra ist eine bedeutende Übung in dieser Richtung. Sie ordnet das umfassende System der Sexualität, indem sie den Testosteronspiegel und die Spermaproduktion beeinflusst. Jeder sollte Vajroli üben, gleichgültig, ob er in einer Partnerschaft lebt oder nicht, denn dann kann er den Geschlechtsakt ausführen, ohne dabei seine Samenflüssigkeit zu verlieren.
(Aus: Yoga Heft Nr. 34) - Swami Satyananda