Yoga Nidra
In den letzten dreißig Jahren ist Yoga Thema wissenschaftlicher Untersuchungen sowohl in Indien wie auch in den westlichen Ländern gewesen. Zunächst galt das Interesse dem wohl bekanntesten Bereich von Yoga, den Asanas.
Seit Jahren untersuchen Wissenschaftler und Ärzte vieler Länder die möglichen Auswirkungen der Asanas auf den Körper, und ich brauche sicher nicht über die erstaunlichen Ergebnisse zu berichten. Daraus resultierte, dass Asanas als hilfreiches Mittel bei Behandlungen eingesetzt wurden. Viele der bis dahin als unheilbar betrachteten Krankheiten - chronische als auch konstitutionelle - konnten in den letzten drei Jahrzehnten durch Yoga erfolgreich behandelt werden. Darüber möchte ich jedoch heute nicht sprechen, sondern mit dieser Einleitung nur deutlich machen, dass dieser Aspekt von Yoga - die Asanas - zur Vorbereitung äußerst wichtig ist.
Yoga und die mentale Persönlichkeit
Die Frage tauchte auf, ob durch Yoga auch die Arbeit des Gehirns und des Bewusstseins beeinflusst werden könnte. Weltweit wird auf diesem Gebiet Forschung betrieben und die Ergebnisse weisen darauf hin, dass durch Yoga - und hier sind nicht nur die Asanas gemeint - das Verhalten, die chemische Zusammensetzung und die Wellen des Gehirns verändert werden können. Ich werde versuchen, in einfachen Worten darüber zu sprechen, so dass jeder das Wissen in seinen Alltag hineintragen kann. Was dein tägliches Üben angeht, das ist deine eigene Angelegenheit und betrifft mich nicht, aber ich habe die Möglichkeit, dir zu erklären, wie Menschen von heute, die über das Leben nachdenken, Yoga begreifen; das sind nicht unbedingt Hindus oder Moslems, sondern auch Agnostiker, die kein Konzept von Gott, Realität, Atma oder Leben nach dem Tod haben, die nur an die Materie glauben, an nichts über diese Materie hinaus. Sie sind zu dem Ergebnis gekommen, dass durch yogische Übung die Qualität der Gehirnsubstanz verändert, beeinflusst, transformiert oder einer völligen Metamorphose unterzogen werden kann.
Wenn dem so ist, was können wir dann tun, um dieses yogische Wissen in unseren Beruf und unser Alltagsleben mit einzubeziehen? Wir sind Sannyasins; einige unter euch sind Geschäftsleute, andere sind Studenten. Jeder hat seine eigene Karriere und seinen eigenen Beruf. Trotzdem müsste es möglich sein, die yogische Wissenschaft so einzubeziehen, dass die Qualität unserer Erfahrungen, die wir tagtäglich mit anderen Menschen haben, einschließlich der Interaktion durch nationale und soziale Probleme, die Art unseres Auftretens und unserer inneren Erfahrung, zu verbessern. Wir glauben an die Möglichkeit, dass sich diese mentale Persönlichkeit durch Yoga entwickeln lässt. Aber wie?
Archetypen und das geniale Bewusstsein
In den westlichen Ländern, aber auch in gewissen Kreisen Indiens, ist es heute schon eine weit verbreitete Meinung, dass sich durch Pranayama, Dhyana (Meditation), Yoga Nidra und Antar Mouna die Wahrnehmung verbessern lässt. In der Schweiz z.B. haben Pädagogen an diesem Thema gearbeitet und sich mit den Wirkungen der Archetypen auf das Gehirn auseinander gesetzt. In unserem Gehirn existieren Billionen dieser Archetypen und scheinen eine Barriere zu bilden, so dass sich unsere mentale Persönlichkeit nicht zum Ausdruck bringen kann. Oft glaubt man, bestimmte Zusammenhänge zu begreifen, dann wieder versteht man überhaupt nichts. Gelegentlich liegt alles klar vor dir, ob du nun Mathematik, Geographie oder Ge-schichte studierst, und dann erscheint wieder alles im Nebel und du verstehst nichts. Es ist das Gehirn, durch das Begreifen und Verstehen möglich ist. Dort müssen wir des¬halb nach den Zusammenhängen suchen.
Die Archetypen des Gehirns offenbaren sich in der Art deines Ausdrucks. Sie sind es, die die Substanz deines nach außen gerichteten Bewusstseins bilden und ruhen in der Tiefe der menschlichen Psyche. Die Substanz ist also nicht der Teil, der mit den Sinnen verbunden ist. Durch Augen, Ohren und andere Medien der Wahrnehmung erlangen wir Wissen; aber davon spreche ich im Moment nicht. Dieser Teil ist nur ein Spiegel. Aber es gibt noch einen anderen Bereich des Bewusstseins - chitta -, den wir anrühren können; und wenn du etwas Geniales erreichen, dein Studium mit hervorragenden Ergebnissen abschließen möchtest, dann solltest du in der Lage dazu sein. Dabei brauchst du dich um den Teil deines Bewusstseins, der von den Sinnesorganen abhängig ist, gar nicht groß zu kümmern, auch nicht um den Teil, wo all dein erlerntes Wissen gespeichert ist. Da gibt es einen weiteren Bereich des Bewusstseins, und dem müssen wir die Möglichkeit geben, sich zu offenbaren. Aber die meisten kennen ihn nicht, haben ihn niemals erfahren. Dieser Teil des Bewusstseins kann nur dann zum Vorschein kommen, wenn du die Archetypen fassen kannst.
Yantra und Mandala - eine Wissenschaft
Die Pädagogen in der Schweiz, von denen ich vorher sprach, haben ein Ausbildungssystem entwickelt, in das die Arbeit mit Yantras und Mandalas einbezogen ist. Die meisten von euch haben von Yantras und Mandalas schon gehört oder sie gesehen, ihr habt aber wahrscheinlich nicht genau gewusst, was sie bedeuten. Es sind geometrische Formen - das Sri Yantra, das Kali Yantra oder das Tara Yantra -, aber selbst in Indien, wo diese Kultur herstammt, war man der Meinung, dass sie irgendetwas Mystisches seien. Der Sinn dieser Yantras war der Allgemeinheit nicht bekannt. Erst jetzt, wo nach neuen Möglichkeiten im Erziehungssystem gesucht wird, werden diese Yantras benutzt, ganz besonders bei behinderten Kindern. Die Anleitung, die gegeben wird, ist folgende: `Konzentriere dich mit offenen Augen auf das Yantra, schließe dann die Augen und betrachte das innere Bild solange du kannst. Wenn du das Yantra innen nicht mehr sehen kannst, dann öffne erneut die Augen und konzentriere dich wieder auf das äußere Yantra.'
Die Meditation auf ein Yantra ist eine Form von Trataka und du kannst sie zweimal täglich für zehn bis fünfzehn Minuten ausführen. Welche Wirkung hat es?
Es heißt, dass das Yantra die Kraft hat, weit in die Tiefen des Bewusstseins vorzudringen, zu jenem Bereich, von dem ich vorher sprach, so dass es sich zum Ausdruck bringen kann. In den Ländern, wo diese Kultur eigentlich herstammt, haben wir die Bedeutung dieser seltsamen geometrischen Formen ganz vergessen. Dagegen entdeckt man in Ländern, wo Yoga nicht zum Kulturgut gehört, dass man durch Meditationsübun¬gen auf ein Yantra geistig behinderten Kindern helfen kann!
Aber auch die Wirkung der Meditation auf ein Mandala wurde erforscht. Für uns ist es ein wissenschaftlich nachweisbarer Vorgang, wo unterbewusste und unbewusste Bereiche des Bewusstseins greifbar werden. Die modernen Pädagogen gehen aber noch weiter und behaupten, dass sich durch Konzentration auf ein Mandala die Gehirnwellen stabilisieren - die Alpha-, Beta-, Theta- und Deltawellen. Es ist vergleichbar mit der Elektrizität, denn diese Wellen haben auch Volt, Frequenz, Ampere und Schwingung. Wenn du in der Lage bist, das Gehirnwellenmuster zu reorganisieren, neu zu strukturieren, dann kannst du damit die Qualität deines Gehirns und damit auch die Qualität des Verstehens verbessern.
Die Epiphyse und eine harmonische Persönlichkeit
In die vielen Untersuchungen, die in der ganzen Welt bereits durchgeführt wurden, ist dies nur ein kleiner Ein¬blick. In Amerika konnten große Erfolge vermerkt werden, nachdem Yoga in die Drogenrehabilitation einbezogen wurde. Ich spreche nicht über Yoga in Beziehung zur Gemütsverfassung, sondern über die Beziehung zwischen Yoga und dem Bewusstsein, die Persönlichkeit des Menschen - Swabhav, Prakriti - seiner Urnatur. Natürlich musst du jeden Tag einige Asanas machen, zumindest Surya Namaskara, denn sie helfen jedem. Aber damit ist Yoga nicht beendet, sondern das ist der Anfang.
Der wissenschaftliche Aspekt von Yoga, der den meisten unserer heutigen Generation nicht bekannt ist, von dem aber unsere Vorfahren wussten und der durch die moderne Wissenschaft wieder entdeckt wird, sollte nicht nur für Sannyasins und Suchende zugänglich sein, sondern auch jungen Menschen, Schülern und Studenten. Vor langer Zeit existierte die Tradition, ein Kind im Alter von sieben oder acht Jahren in ein Sutra einzuweihen. Bitte denke nicht, dass ich von brahmanischen Lehren spreche oder eine religiöse Theorie untermauern will. Ich spreche als Arzt und Wissenschaftler. Mit dieser Einweihung wurde das Kind in ein bestimmtes Mantra, Pranayama und Surya Namaskara eingeweiht, und der Name für diese Einweihung war Upanayanam.
Heute kommt die Wissenschaft zu einer ganz neuen Erkenntnis. Man fand heraus, dass die Epiphyse bei Kindern im Alter von sieben oder acht Jahren zu degenerieren beginnt und danach keine Kontrollinstanz für die Hypophyse mehr vorhanden ist. Sie öffnet sich vollkommen und die Hormone können unkontrolliert in den Körper eintreten. Die bis dahin ausgewogene Persönlichkeit gerät nun immer mehr ins Wanken. Ein junger Mensch von fünfzehn Jahren kann so denken, erleben, Wünsche und Leidenschaften haben wie ein Fünfunddreißigjähriger. Die Ausgewogenheit fehlt, weil die Epiphyse im Alter von sieben oder acht Jahren mangels richtiger Übungen degenerierte, anstatt sie in einem gesunden Zustand zu erhalten.
Um diese Hormondrüse so lange wie möglich gesund und aktiv zu erhalten, wurde in Mantra, Pranayama und Surya Namaskara eingeweiht. Über Mantra und Surya Namaskara möchte ich hier nicht weiter sprechen, nur einige Worte über Pranayama und seine Wirkung auf die Epiphyse, die sich am oberen Ende der Wirbelsäule befindet, nahe der Medulla Oblongata. Dieser Platz hat verschiedene Namen, z.B. das dritte Auge. In Yoga nennen wir es das Ajna Chakra, das Monitorzentrum, von wo aus das Atemsystem, die Ausscheidung und alle anderen Körpersysteme Befehle erhalten und überwacht werden. Selbst Lähmung, Lähmung im Gehirn, Muskelatrophie und andere Krankheiten können von der Epiphyse, dem Ajna Chakra aus, direkt unter Kontrolle gehalten werden. Wissenschaftlich gesehen ist es das Monitorzentrum, und das kann durch Pranayama trainiert werden.
Pranayama als Mittel, das Gehirn auszubalancieren
Es ist eine einfache Übung: Du atmest durch das linke Nasenloch ein, durch das rechte aus, durch das rechte Nasenloch atmest du wieder ein und durchs linke aus. Einige Sekunden - zwei, drei, vier oder fünf - hältst du deinen Atem an. Die wissenschaftlichen Untersuchungen zeigten folgendes: Wenn wir durch das linke Nasenloch atmen, arbeitet die rechte Hemisphäre des Gehirns - zieht sich zu¬sammen und dehnt sich aus, immer und immer wieder. Wenn wir durch das rechte Nasenloch atmen, geschieht das gleiche in der rechten Hemisphäre des Gehirns. Durch diese Übung trainierst du einen sehr wichtigen Teil deines Körpers - das Gehirn und die Epiphyse. Der Grund, warum wir unseren Kindern diese Übung gaben, war der, die Epiphyse für viele Jahre in einem gesunden Zustand zu erhalten, so dass sich die Persönlichkeit harmonisch entwickeln konnte; Harmonie zwischen Emotionen, Denken und Erfahrung.
Ich habe heute nicht über Asanas gesprochen, weil ich denke, dass die meisten hier genügend darüber wissen. Es lag mir am Herzen, die Erkenntnisse weiterzugeben, die wir durch die yogische Forschungsarbeit erlangt haben. Ich glaube, dass wir die Qualität des Gehirns genauso verbessern können, wie alles andere - es ist möglich. Das Gehirn ist keine bewegungslose Masse; wenn du ein Idiot bist, heißt das nicht, dass du es bleiben musst. Und wenn du ein schlechtes Gedächtnis hast, muss das auch nicht so bleiben. Ich bitte jeden darum, sich bezüglich Yoga diese Zusammenhänge vor Augen zu führen. Es kann allerdings sein, dass die Bihar School of Yoga der einzige Platz in Indien ist, der diese Auslegung gibt.
Die Kraft des Bewusstseins
Mit Gedanken kannst du erschaffen,
Mit Gedanken kannst du zerstören.
Mit ihnen formulierst du schließlich dein Sankalpa.
Die Gedanken auf einen Punkt konzentriert -
das ist Willenskraft.Wenn das Bewusstsein in zehn, zwanzig
oder tausend Stücke zerbrochen ist,
entsteht Vikshepa,
entsteht Zerstreuung,
entsteht Depression,
entstehen Zusammenbrüche,
entsteht Schizophrenie,
entsteht Wahnsinn!Swami Satyananda Saraswati